Erstes Kapitel - Der Aufbruch
Als ich am 1. Mai in diesem
Jahr das Segelschiff mit dem Namen „Schwalbe“ betrat, war gerade im Osten die
Sonne aufgegangen. Das Schiff lag unter der London Bridge vor Anker auf dem
breiten Fluss Themse, der bei Ebbe die Schiffe hinaus auf das Meer trägt. Big
Ben, der große Glockenturm, schlug gerade vier Uhr, als der Kapitän auf das
Schiffsdeck kam, sich kurz umschaute und dann mit einem einzigen Pfiff
sämtliche Matrosen zusammenrief und sie an ihre Plätze schickte. Im Nu war die
Arbeit getan, die Segel gesetzt, der Anker gelichtet und die Taue losgeworfen.
Das Schiff nahm langsam Fahrt auf. Es ging westwärts durch das Landesinnere
Englands. Aber für große Betrachtungen hatte ich keine Zeit, denn nach vier
Stunden war die offene See erreicht und wir wurden von den kräftigen Wellen ins
Meer hinausgezogen. Bald hatten wir England aus dem Blick verloren.
Wir fuhren den ganzen Tag in
Richtung Westen. Der Kapitän wollte auch in der Nacht durchsegeln lassen, denn
der Wind war günstig. Ich ging in meine Kajüte, seekrank wurde ich zum Glück
nicht, und legte mich schlafen.
Nach zwei Stunden wachte ich
wieder auf. Irgendetwas Seltsames war geschehen. Das Schiff bewegte sich ganz
anders, viel ruhiger und sanfter. Die Bohlenbretter knarzten kaum noch und es
war fast so etwas wie Musik zu hören. Ein merkwürdiger Geruch lag in der Luft.
Es roch nach Seife, die Frauen gern benutzen.
Ich konnte es kaum glauben.
Frauen sind auf Segelschiffen eher ungebetene Gäste, so eine Fahrt ist nämlich
nicht ganz ungefährlich.
Ich steckte meine neugierige
Nase zur Tür hinaus. Da ich ein Hase bin und, wie Du weißt, ein ganz besonderer
Hase, bemerkte ich gleich die Gäste, die sich wohl heimlich an Bord geschlichen
hatten. Es handelte sich wirklich um Frauen. Ich hatte solche noch nie gesehen.
Sie trugen ganz feine wie von Spinnen gewobene und mit Tautropfen geschmückte
Kleider. Sie bewegten sich ohne Geräusch und führten auf dem Vorderdeck einen
Tanz auf. Das waren Menschen und andererseits doch keine Menschen. Mein
Haseninstinkt sagte mir, dass ich es hier wohl mit Feen zu tun haben musste.
Für mich war das nichts Ungewöhnliches,
denn
ich hatte auf dem River-Mountain schon öfter Feen gesehen und auch mit ihnen
gesprochen, doch die sahen damals anders aus.
Aber was wollten diese Wesen
hier auf diesem Schiff? Ich wusste, dass es für Feen nicht möglich ist, das
Wasser zu beschreiten oder zu überfliegen, darum fuhren sie wohl mit dem
Schiff. Wohin wollten sie? Mein geübter Blick zu den Sternen sagte mir, dass
wir nach Nordosten fuhren, also fast in einem spitzen Winkel wieder nach
England zurück. Wenn wir aber diese Richtung weiter verfolgten, mussten wir an
der englischen Küste vorbeisegeln, viele Meilen außer Sicht. Vielleicht hatten
wir diese auch schon passiert. Das Schiff fuhr mit einer Geschwindigkeit, wie
ich sie noch nie bei einem Segler erlebt hatte. Diese Geschwindigkeit hing
offenbar mit dem Tanz der Feen zusammen. Wenn sie eine kleine Verschnaufpause
einlegten, wurde das Schiff immer langsamer. Dann richtete sich eine Fee in der
Mitte auf, hob die Hand und der Gesang und der Tanz gingen wieder weiter. Und
das Schiff, es nahm wieder seine Fahrt auf.
Ich hatte mich immer weiter
vorgewagt. Mir gefiel dieser Anblick von schönen und sich vollkommen bewegenden
Feen.
Ich glaube, dass meine Augen
vor Freude glänzten, dass sie fast ein grünes Feuer versprühten.
Ganz plötzlich schien das
Schiff mitten in der rasenden Fahrt stehen zu bleiben, und ich sah mich von
vielen Feen umringt. „Was tust du hier?“, vernahm ich eine laute, aber
freundliche Stimme.
Mir rutschte das Herz in die
Hosentasche, denn ganz so alltäglich ist mein Umgang mit Feen doch wieder
nicht. „Ich, ich reise hier auf dem Schiff zur Osterinsel. Das muss ein Osterhase
einmal in seinem Leben tun.“
„Zur Osterinsel?“, fragte die
Fee, die in der Mitte getanzt hatte. Dabei legte sie nachdenklich eine Hand auf
ihre Stirn und überlegte. „Du bist ein Osterhase? Und du willst zur Osterinsel?
Da kommt mir eine Idee!“
Sie winkte die anderen
zauberhaften Wesen zu sich, und während das Segelschiff bewegungslos auf der
ruhigen See lag, besprach sie sich mit ihnen unter dem Fockmast.
Was ich in dieser Zeit dachte,
weiß ich heute nicht mehr, ich wusste es auch damals nicht. Es stieg jedenfalls
eine schwache Angst in mir auf.
Wenn
sich ein Lebewesen in die Angelegenheiten von Feen einmischt, steckt es schon
mittendrin.
„Wie heißt du?“, richtete die
Fee wieder ihr Wort an mich.
„Ich bin Flash!“
Wieder sann sie eine Weile nach.
Dann sagte sie: „Was du hier erlebst, ist eigentlich nicht für irdische Augen
bestimmt. Du hast den Feentanz gesehen, der für uns das einzige Mittel ist, uns
über das Wasser zu bewegen. Dafür brauchen wir aber ein Schiff. Du wirst dich
fragen, wo denn der Kapitän mit seinen Matrosen ist. Wir haben ihm ein
Segelschiff hergezaubert, das genauso aussieht wie dieses hier. Wir selbst
können immer nur mit dem Originalschiff fahren. Darum sitzt er jetzt mit seinen
Matrosen auf einer Kopie und fährt dorthin, wohin er wollte. Dich haben wir bei
der Umsiedlung übersehen, denn du bist kein Mensch. Es sind nur Menschen für
uns gefährlich, weil sie sich gern in unsere Angelegenheiten einmischen wollen,
um so zu werden wie wir.“
„Wie und wann komme ich jetzt
zu meiner Osterinsel?“, fragte ich neugierig.
„Wenn du deine Aufgabe erfüllt
hast!“
„Meine Aufgabe?“
„Ja, du kommst uns nämlich wie
gerufen. Aber warte einen Augenblick, dann werde ich dir einiges erklären.“
Die wortführende Fee gab ihren
Damen ein Zeichen. Die Musik setzte ein, und die Feen begannen zu tanzen und
brachten so auch das Schiff wieder in Fahrt.
Die Feenkönigin, das war sie
wohl, führte mich zum Ruderhaus, öffnete die Tür und ließ mich eintreten. Es
war ein kleiner Raum, in dem sich das Steuerruder, der Kompass und die
Seekarten befanden. Der Kompass zeigte genau nach Nordosten.
Die Feenkönigin hatte meinen
Blick verfolgt und meinte mit einem Lächeln in den Augen: „Du fährst wohl nicht
zum ersten Mal zur See?“
„Ja, das ist richtig. Neben dem
Fliegen ist das mein liebstes Fortbewegungsmittel.“
„Fliegen?
Willst du mich auf den Arm nehmen? Du kannst doch nicht fliegen!“
„O doch, das kann ich. Nicht
so, wie du dir das vielleicht vorstellst. Ich habe eine Gabe mit in mein Leben
bekommen, die es mir möglich macht, mit Hilfe meiner Gedanken- und Willenskraft
wie ein Vogel von einem Ort zum anderen zu fliegen. Es ist dann nicht so wie
bei einem Vogel mit Flügelschlagen und der Nutzung eines warmen Aufwindes.
Nein, es ist die Kraft des Gedankens, die mich an jeden Ort trägt, an dem ich
und nur ich allein gebraucht werde. Es kam auch schon vor, dass ich all meine
Kraft zusammennahm für den Gedankenflug und nach einer Stunde immer noch an
derselben Stelle stand. So habe ich lernen müssen, dass es nicht immer auf mich
ankommt, auch wenn ich es noch so sehr wollte. Es ist etwas, das ganz tief in
meinem Inneren sitzt und mich im richtigen Moment die richtige Entscheidung
treffen lässt. Das ist weit weg von Zauberei. Zaubern kann ich nicht. Wenn ich
eine Karotte essen will, muss ich mir eine suchen.“
Die Fee lachte, und ihr Lachen
klang so wie das glockenhelle Plätschern meines Lieblingsbaches zu Hause in
England. Das machte sie mir sehr sympathisch und meine Angst verschwand nach
und nach.
„Ich glaube, du bist ein sehr
kluger Hase und für uns ein Geschenk des Himmels.“
„Geschenk des Himmels? Heißt
das etwa, ich passe in irgendeinen Plan von euch?“
…